Ich habe einmal gelesen, an der Stelle im Gehirn, wo andere Menschen den Nationalstolz haben, hätten wir Deutschen einen Minderwertigkeitskomplex. Das ist durchaus bedenkenswert, doch keine Sorge, ich werde hier ganz gewiss nicht auf die Ereignisse eingehen, die dem großen Thema “Deutsche und Schuld” zugrunde liegen. Aber als dieser Krieg letzten Februar angefangen hat, ist mir angesichts der Ereignisse und Reaktionen kurz der Gedanke durch den Kopf gegangen, ob diese Behandlung jetzt womöglich auch für ein anderes großes europäisches Volk vorgesehen ist. Es ist immer noch nicht vollkommen ausgeschlossen, dass ein solcher Ausgang geplant sein könnte, aber mittlerweile halte ich das für sehr unwahrscheinlich.
Wie auch immer das ausgehen wird, wir haben unseren Ausgang schon hinter uns. Und wenn wir schon dazu auserkoren sind, mit Erbschuld geboren zu sein, dann können wir dieses Schicksal auch annehmen und einfach als Hinweis auffassen, dass es die Aufgabe von uns Deutschen der aktuellen Generationen ist, uns näher mit dem Konzept Schuld ganz allgemein zu befassen. Das habe ich getan.
Das Wort geht auf die Norne Skuld zurück. Die Nornen sind drei Schwestern aus der germanischen Mythologie, die auch als Schicksalsgöttinnen bezeichnet werden. Urd, die älteste, steht für die Vergangenheit, Verdandi, die mittlere, für die Gegenwart, und Skuld, die jüngste, steht für die Zukunft. Das mutet erst einmal verwirrend an, denn zumindest ich bringe Schuld mit Vergangenheit in Verbindung – nicht nur bei dem Thema, über das wir hier nicht reden, sondern auch bei ganz alltäglichen persönlichen Verfehlungen, die in der Vergangenheit stattgefunden haben und in der Gegenwart unangenehme Gefühle auslösen. Aber was hat das mit der Zukunft zu tun? Lesen wir weiter bei Wikipedia:
Nur der Name Skulds drückt aus, dass sie für die Zukunft steht. Das bedeutet offenbar innerhalb der nordischen Schicksalsvorstellungen das der Vergangenheit Geschuldete. Das ist das Geschehen, das noch zu geschehen hat, weil es auf Grund des Vergangenen nicht anders geschehen kann.
Das spiegelt eine Weltanschauung wider, die sich krass von der üblichen unterscheidet, in der Wahlplakate suggerieren, man könne ganz nach Belieben „Zukunft gestalten“. Ich möchte allerdings hier nicht auf so tiefe philosophische Betrachtungen eingehen, sondern nur darauf hinweisen, dass wir diese Wortbedeutung durchaus immer noch in unserer Sprache haben. Sie kommt zum Ausdruck, wenn wir sagen „Das bin ich ihm schuldig“ oder „Ich habe meine Pflicht und Schuldigkeit getan.“ Das passt eher zu Skuld, oder? In beiden Fällen bedeutet das nämlich eher nicht, dass man vorher eine Schuld auf sich geladen hat, man kann jemandem auch aus Freundschaft, aus Treue oder aus Dankbarkeit etwas schuldig sein. Wie kommt es, dass wir zwei völlig unterschiedliche Begriffe mit dem gleichen Wort “schuldig” bezeichnen? Ich weiß es nicht! Ich möchte es daher jedem selber überlassen, darüber nachzusinnen, es ist nämlich gar nicht ausgeschlossen, dass das Konzept Schuld, wie wir es heute kennen, überhaupt nicht natürlich ist und keineswegs immer vorhanden war.
Den meisten dürfte als Verdacht, wo dieses Konzept herkommt, das Christentum einfallen, und das ist vermutlich recht nah an der Wahrheit. Allerdings steht Christus vor allem für die Vergebung von Schuld, also gerade für die Auflösung dieses Konzepts, möglicherweise ist das sogar mit der „frohen Botschaft“ gemeint, denn eine solche wäre es in der Tat. Er hat seine Jünger ja auch nur aufgefordert, die frohe Botschaft in die Welt zu tragen, und nicht dazu, eine riesige Organisation zu gründen, die allerlei Regeln aufstellt, unter welchen Voraussetzungen die Vergebung geschieht, die Jesus Christus einfach verschenkt hat. Mir sind Christus und Skuld auf jeden Fall lieber als Christentum und Schuld, und ich werde im weiteren Verlauf dieser Betrachtung das übliche Schuldkonzept beiseite lassen. Wenn das jetzt jemand für moralischen Relativismus hält, dann habe ich mich unzureichend ausgedrückt.
Das ist es nicht! Es geht vielmehr in die Richtung “Hasse die Sünde und liebe den Sünder”, aber das ist lediglich ein Versuch, zu erklären, wie es gemeint ist. Das geht mir zu weit, denn dem kann ich nicht gerecht werden: Ich liebe nicht alle Menschen und manche hasse ich sogar. Ich habe mich lediglich von dem lästigen Zwang befreit, mit Schuld zu werfen und auch noch einzuschätzen zu müssen, wie groß der jeweilige Eimer sein muss. Ich möchte andere dazu anregen, das auch zu versuchen, es ist wirklich befreiend! Aber wer nicht will, der kann es auch bleiben lassen und einfach nur zur Kenntnis nehmen, dass diese Haltung in dieser Artikelserie zugrunde liegt. Damit haben wir nämlich auch den lästigen Whataboutism vom Hals.
Schuldgefühle sind aber meiner Ansicht nach schon natürlich. Sie sind wie eine Art seelischer Schmerz, der wie körperlicher Schmerz als Signal dient, dass man das, was dazu geführt hat, besser nicht mehr machen sollte. Das ganz einfache Beispiel mit der Hand auf der heißen Herdplatte kommt in den Sinn. Wenn das nicht weh täte, würden wir das vielleicht immer wieder machen, bis unsere Hand eines Tages dauerhaft beschädigt wäre. Aber der Schmerz geht nach einer Weile auch vorbei und gute Menschen erkennt man daran, dass sie uns kalte Umschläge zur Linderung auflegen. (Oder noch besser: Sauerkraut aus dem Kühlschrank. Die Mischung aus hoher Feuchtigkeit, Kälte und Milchsäure kann bei Brandwunden Wunder wirken, vielleicht hat auch das Kraut selber heilende Inhaltstoffe. Ich habe dafür immer eine Packung im Haus. Aber das nur nebenbei, das soll hier kein Gesundheitsratgeber werden)
Und so ist es wahrscheinlich analog auch mit Schuldgefühlen. Wenn wir immer wieder das tun würden, was die unangenehmen Schuldgefühle auslöst, wäre unsere Seele irgendwann so dauerhaft beschädigt wie die Hand, die ständig verbrannt wird. Wenn das perfekt funktionieren würde, bräuchten wir keine Gesetze, keine Polizei und keine Gerichte. Es funktioniert aber nicht perfekt, und daher brauchen wir diesen Bereich, in dem auch das Schuldkonzept notwendig ist. Ich finde das bedauerlich, aber ich bin nicht blöd genug, zu glauben, es ginge ohne. Aber es ist ein abgegrenzter Teilbereich des Lebens und in diesem Teilbereich befinden wir uns hier nicht.
Auch beim Umgang mit Schuldgefühlen kann man vorgehen wie bei der verbrannten Hand. Lernen, was man besser nicht machen sollte, und dann die Schuldgefühle gehen lassen. Ganz anders verhält es sich aber, wenn Leute von außen versuchen, Schuldgefühle in anderen zu erzeugen. Das ist dann, als ob sie die Hand packen, sie auf die heiße Herdplatte drücken und hinterher regelmäßig heißes Öl darüber kippen, damit die Wunde bloß nie verheilt. Es gibt meistens keine Möglichkeit, sie daran zu hindern, aber man kann sich einen feuerfesten Handschuh zulegen und wertvolle Erkenntnisse über den Charakter solcher Leute gewinnen – “doch alles in der Still’, so wie es sich schicket”.
Schuld spielt eine ganz große Rolle bei der Betrachtung dieser Kriegsereignisse. Aber es geht dabei nicht um die natürlichen Schuldgefühle, die Beteiligte an Gräueltaten oder auch nur „normalen“ Kriegshandlungen möglicherweise mit sich herumschleppen oder auch nicht. Wir kennen diese Leute nicht und es ist ihr Problem, nicht unseres. Es ist auch überhaupt nicht unsere Aufgabe, ihnen Schuldgefühle einzuimpfen, ganz davon abgesehen, dass wir das gar nicht können, weil sie hier nicht mitlesen. Aber da wo man in anderen Schuldgefühle erkennt, würde ich dazu raten, mit dem kalten Sauerkraut zu kommen – nicht mit dem heißen Öl.
Doch so viele Leute scheinen regelrecht besessen von Schuld zu sein. Ständig sind sie damit befasst, dass irgendwer hoffentlich seine “gerechte Strafe” bekommt und schwelgen sogar in der Vorstellung von Tribunalen mit Angeklagten, die von Putin bis Merkel reichen und wahrscheinlich bis hin zu Kommentatoren, die missliebige Meinungen vertreten. Solcherart alttestamentarische Rachsucht stößt mich ab und das ist traditionell auch im Zusammenhang mit Kriegen kein Bestandteil zwischenstaatlicher Beziehungen, sondern ein recht neues Phänomen.
Viele führen sich auch auf wie bei einem Fußballspiel, bei dem es ein Tor darstellt, wenn man der anderen Seite erfolgreich einen Kübel Schuld über den Kopf leeren kann, und verteidigen verbissen das eigene Tor. Im Augenblick möchte ich dazu beispielhaft auf das bekannte Massaker in Butscha eingehen. Ich habe eine Vermutung, welche Seite es begangen hat, aber sie ist unsicher und ich werde sie nicht äußern. Es reicht vollkommen aus, zu wissen, dass so eine Gräueltat geschehen ist, und dass sie aufgrund des Krieges geschehen ist. Natürlich ist die Schuldfrage nicht unwichtig für ein eventuelles Gerichtsverfahren, aber ich bin nicht an einem solchen Prozess beteiligt, falls er stattfinden sollte.
Mich interessiert vielmehr, wie so etwas geschehen kann. Ich fürchte nämlich, bei den Beteiligten handelt es sich keineswegs ausschließlich um böse Menschen, die Böses tun, sondern auch um gute Menschen, die – aufgrund von Politik – Böses tun. Damit meine ich sowohl die Soldaten vor Ort als auch ihre jeweiligen Fans, von denen zuweilen sehr verstörende Äußerungen kommen. Wie geschieht das und wie kann man sich davor schützen? Das interessiert mich, aber ob die Täter Russen oder Ukrainer oder sonstwas waren, ist mir vollkommen egal. Und ich bitte jeden, der denkt, das wäre nicht egal, sich zu fragen, wozu er das wissen muss.
Für’s Fußballspiel? Weil’s ein Tor wäre, wenn man beweisen könnte, dass es “die anderen” waren?
Aber egal ob ein Fan dem Slava-Ukraine- oder Z-Team zujubelt, er unterstützt in Wirklichkeit nie “seine” Mannschaft, er schreit nur dumm für sie rum. Er unterstützt immer die Organisatoren und trägt ein bisschen dazu bei, dass das Turnier stattfinden kann. Ohne Fans der verschiedenen Mannschaften gäbe es keine WM! Und die Organisatoren dieses Gemetzels sind die letzten Menschen auf dem Planeten, deren “Turniere” ich durch Fanverhalten unterstützen will. Ich fürchte nämlich, deren Ziele sind sehr viel bedrohlicher, als das, was beide Seiten der jeweiligen Gegenseite unterstellen, und ihre Methoden dazu sind abgrundtief bösartig.
Doch bevor das sichtbar werden kann, muss eine Menge Müll entsorgt werden – eine unangenehme Aufgabe, an die ich mich hier Schritt für Schritt machen möchte. Bitte behaltet dabei diese Vorbetrachtung im Hinterkopf.
Erweiternd zu diesem Artikel verlinke ich einen Vortrag von Dr. Eduard Koch, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, in dem er mehrmals sehr eindringlich sagt: “Schuld tötet.” Vielleicht ist es gar keine schlechte Idee, das Werfen von Schuld allenfalls auf diejenigen Menschen zu beschränken, die man auch gerne töten würde. Das dürften im Allgemeinen nicht viele oder sogar gar keine sein.
- Teil 3: Krieg beginnt mit der Verteidigung
- Teil 4: Reise ins russische Propaganda-Universum
- Teil 5: Wir müssen diesen armen Menschen helfen
- Teil 6: Die Einkreisung
- Teil 7: Die multipolare Weltordnung
- Teil 8: Entnazifizierung
- Teil 9: Hornissennester?
- Teil 10: Back in the USSR
- Teil 11: Hexenprozesse
- Teil 12: Todeskult
- Teil 1: Vorbetrachtung und präzise Sprache